Liebe Kidshelp-Supporter,
wir sind bereits mitten im dritten Quartal des Jahres. Eigentlich höchste Zeit um die diesjährigen Kandidat:innen für die kommenden Universitätsstipendien vorzustellen. Doch in diesem Jahr ist alles ein bisschen anders. Normalerweise laden wir ein bis zwei Monate vor dem Abitur alle Schüler:innen der elften und zwölften Klasse zur Studienvorbereitung ein. In einem ersten Treffen erklären wir ihnen das Bewerbungsverfahren und versuchen ihnen abermals (viele von ihnen waren bereits im Vorjahr beim gleichen Treffen dabei) klarzumachen, dass sie sich bald für ein bestimmtes Studienfach entschließen müssen. Im Anschluss stellt dann eine Auswahl der Studierenden der Vorjahre ihre aktuellen Studiengänge vor. So weit, so normal.
Weil das Datum für die Abiturprüfungen 2020 jedoch noch nicht einmal angekündigt wurde, haben wir auch noch nicht mit der Vorbereitung für die diesjährige Stipendienvergabe begonnen. Abgesehen davon, dass wir eine Sondererlaubnis bräuchten, um überhaupt Schüler in der wegen der Pandemie geschlossenen Schule zu versammeln, wäre es derzeit grundsätzlich schwer alle potentiellen Kandidat:innen zu erreichen. Die Schulen sind seit fast einem halben Jahr geschlossen. Viele ältere Schulkinder arbeiten mittlerweile in Aushilfsjobs oder im Betrieb der Eltern, um in einer wirtschaftlich sehr schwierigen Zeit zum Familieneinkommen beizutragen. Oftmals heißt das, dass sie temporär bei Verwandten in anderen Bundesländern leben. Das kann mit ihren Jobs zusammenhängen; beispielsweise, wenn besagte Verwandte größere landwirtschaftliche Betriebe haben. Es kann aber auch daran liegen, dass die Eltern neue Stellen angetreten haben. Normalerweise würden die Kinder bei den Großeltern bleiben und weiter zur Schule gehen. Weil die Schulen aber sowieso geschlossen sind, begleiten viele Kinder ihre Eltern für die Dauer der Schließungen. Es gibt keine Garantie dafür, dass diese Familien nach dem Ende der Krise in ihr Heimatdorf zurückkehren. Allerdings haben die meisten Großeltern und ihren Besitz zurückgelassen. Viele der Jobs die sie derzeit ausüben sind in der Landwirtschaft und deshalb ohnehin saisonal begrenzt. Auch die emotionale Bindung der Familien an ihre Heimat sollte nicht unterschätzt werden.

Die meisten Betroffenen die wir bereits persönlich interviewt haben, sagten uns, dass sie oder zumindest die Kinder zurückkehren, sobald die Schulen wieder öffnen. Und insgesamt soll hier auch kein zu dramatisches Bild erzeugt werden. Derzeit wissen wir von fünf Familien die laut eigenen Angaben vorrübergehend verzogen sind. Das entspricht weniger als 2% aller Patenkinder. In allen Fällen wurde uns versichert, dass eine Rückkehr zur Schule geplant ist. Wir werden das natürlich trotzdem sehr genau beobachten und planen in den nächsten Wochen vermehrt das Gespräch mit Elft- und Zwölftklässlern zu suchen.
Und dennoch wird es vorkommen, dass Familien entscheiden permanent umzuziehen und dass vor allem Patenkinder im Teenageralter die Schule aufgeben. Im Falle einer Nichtrückkehr zur Schule, werden wir das Gespräch mit allen Beteiligten suchen und von Fall zu Fall entscheiden müssen, was die beste Handhabe für die Zukunft ist. Ein Teenager der Schule nicht mag und bereits mehrmals sitzengeblieben ist, wird schwer zu überzeugen sein den derzeitigen Job zu kündigen und wieder zum Unterricht zu gehen. Kinder die sehr gerne zur Schule gehen und derzeit auf dem Bauernhof der Eltern aushelfen, werden hingegen mit Freude weiter lernen insofern die finanzielel Situation es ermöglicht. Es gibt jedoch viele Fälle im grauen Bereich:
Es kommt vor, dass gleich mehrere oder alle Erwachsenen aufgrund der Pandemie ihre Anstellungen verloren haben. Letzteres ist nicht unwahrscheinlich, weil die Baubranche und der Textilsektor stark geschwächt sind und der Tourismus fast komplett stillliegt. Wenn zusätzlich jeden Monat Ratenzahlungen für Mikrokredite abgeleistet werden müssen, ist der Druck auf die Familien so groß, dass selbst jüngere Kinder auf dem Bau, in der Landwirtschaft oder in den Backsteinfabriken mitarbeiten. Darüber, dass mittlerweile die Mehrheit aller einkommensschwachen Haushalte verschuldet ist, gibt es keine genauen Zahlen. Allerdings gaben bereits 2009 46 Prozent aller einkommensschwachen Haushalte an Kredite zurückzahlen zu müssen und mittlerweile soll die pro-Kopf Verschuldung mit Mikrokrediten die höchste der Welt sein. Es ist deshalb davon auszugehen, dass 11 Jahre nach der letzten offiziellen Erhebung, ein noch größerer Anteil von Familien verschuldet ist. Da es in diesen Fällen buchstäblich um Leben und Tod geht, weil durch die monatlichen Ratenzahlungen nicht genug Geld für die Grundsicherung bleibt, ist durchaus Skepsis angebracht, wenn uns die Betroffenen sagen, dass ihre Kinder nach der Krise zurück in die Schule gehen. Andererseits ist der Verdienst in den Aushilfs- und Nebenjobs von Minderjährigen oft so gering, dass die von uns monatlich ausgezahlten Patengelder und die Aussicht auf den Verlust dieses Geldes nach einem Schulabbruch das sogenannte „Zünglein an der Waage“ sein können, wenn es darum geht ob jemand abbricht oder nicht. Eine solche Situation erfordert viel Fingerspitzengefühl und Austausch mit allen Beteiligten. In besonderen Härtefällen wäre auch denkbar, die monatlichen Hilfszahlungen für ein Kind zu erhöhen. Wir würden dann zunächst den Sponsor fragen ob er Zusatzzahlungen leisten kann und will und danach ggf. weitere Sponsoren für das Kind suchen. Für uns bedeutet die aktuelle Situation, dass wir nach den Gesprächen mit den Familien genau aufschreiben wer derzeit arbeitet. Nach der Wiedereröffnung der Schulen, werden wir bei der Abholung der Patengelder dann noch genauer auf die Schulnachweise dieser Kinder schauen als wir es ohnehin schon tun.

Wir sind uns bewusst, dass je nach Alter und Anstellungsverhältnis der Kinder auch juristische Aspekte berücksichtigt werden sollten. Auch aus dieser Perspektive sind viele Fälle schwer zu beurteilen. Die Anstellungsverhältnisse sind informell und oft sehr undurchsichtig. Es gibt bezüglich des erlaubten Alters große Unterschiede, wenn es um Arbeit innerhalb oder außerhalb des Familienbetriebs geht. Bei Anstellungen in Fabriken wird außerdem oft mit gefälschten Geburtszertifikaten gearbeitet. Selbst wenn man nachweisen könnte, dass ein Anstellungsverhältnis illegal ist, sollte stets das bestmögliche Szenario für das Kind bestimmen, wie die nächsten Schritte aussehen. Ist ihr/ihm damit geholfen, wenn das Arbeitsverhältnis beendet wird? Was würde mit den Eltern und dem Kind selbst passieren, wenn ein Fall zur Anzeige gebracht wird?
Es gibt Gesetze gegen Kinderarbeit und mittlerweile haben wir herausgefunden, dass man Fälle an staatlich angestellte Sozialarbeiter:innen melden und um deren Hilfe bitten kann. Die Regierung beschäftigt allerdings erst seit wenigen Jahren eigene Sozialarbeiter:innen und der Beruf ist in Kambodscha insgesamt noch relativ neu. Internationale Hilfsorganisationen und staatliche Stellen konkurrieren um die wenigen Absolventen des „Department of Social Work“ der Royal University of Phnom Penh. Letztere ist unseres Wissens die einzige Uni die dieses Studienfach überhaupt anbietet. Weil die Konkurrenz hoch und die Anzahl der Absolvent:innen gering ist, konnte die Regierung bisher erst relativ wenige Sozialarbeiter:innen einstellen. Diese wenigen Fachkräfte sind nicht selten für hunderte Fälle gleichzeitig verantwortlich und dementsprechend überfordert.[i] Weil wir uns dieser Tatsache bewusst sind, setzen wir auch in solchen Fällen alles daran die Eltern und das Kind davon zu überzeugen weiter bzw. zurück in die Schule zu gehen. Neben der verbalen Aufarbeitung der negativen Folgen von Kinderarbeit und den positiven Auswirkungen von Bildung auf die Zukunft des Kindes, spielt das zusätzliche monatliche Einkommen durch die Patengelder und dessen potentieller Verlust bei Schulabbruch, eine wesentliche Rolle wenn es darum geht die Familien zu überzeugen, dass ihre Kinder weiter zur Schule gehen dürfen. Wer an dieser Stelle meint, dass dafür die Grundrechte des Kindes und die Argumente pro Bildung alleine ausreichend sein sollten, negiert die harte wirtschaftliche Realität vor Ort, die durch Covid 19 noch einmal deutlich dramatischer geworden ist.
Aus den oben genannten Gründen suchen wir weiterhin händeringend nach neuen Paten und Fördermitgliedern. Wir hatten bereits im letzten Blog und Newsletter auf die Effektivität von Hilfe durch Bargeld hingewiesen und hoffen das die obigen Ausführungen das abermals verdeutlichen. Es wäre toll, wenn ihr, eure Freunde oder euer Arbeitgeber eine Schülerpatenschaft übernehmen würdet und damit dazu beitragt das ein oder andere Kind in der Schule zu halten. Alle dazu notwendigen Informationen findet ihr hier:
https://www.kidshelp-kambodscha.org/unsere-arbeit/die-schuelerpatenschaften/
Wir sammeln außerdem fleißig weiter Geld für den Bau unserer neuen Schule. Welche Fortschritte wir diesbezüglich gemacht haben, erfahrt ihr im nächsten Blog und Newsletter.

Liebe Grüße und vielen herzlichen Dank vom gesamten Kidshelp Team!
[i] Wir sind deshalb jedes Jahr sehr darum bemüht unsere Bewerber auf die Stipendien für ein solches Studium zu begeistern. Mittlerweile hat eine ehemalige Stipendiatin erfolgreich das Studium beendet und arbeitet als Sozialarbeiterin in einer internationalen NGO. Auch sie hat uns bereits davon berichtet, dass sie aufgrund der extrem hohen Anzahl an Fällen, kaum Zeit für die Betreuung einzelner Familien hat.